Karlsruher Institut für
Wirschaftforschung
KIWIFO
1. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie viel Geld Sie in diesem Moment haben müssten, wenn Sie eine (für Deutschland) mittlere Geldmenge
besitzen wollten? Gerade die Diskussionen um das Schwinden der Mittelschicht fordert diese Frage heraus. Denn wer Mittelschicht sein will, so lässt
sich behaupten, der muss (u. a.) eine mittlere Kaufkraft, also eine mittlere Menge Geld, besitzen.
Wie hoch ist nun aber eine mittlere Kaufkraft bzw. Geldmenge? Die Deutsche Bundesbank weiß ziemlich genau, wie viel Geld in Deutschland vorhan-
den ist. Sie nennt die Menge des Geldes, das unmittelbar als Zahlungsmittel dienen kann, die Geldmenge M1. Es handelt sich dabei um das Bargeld
(jedoch ohne die Kassenbestände der Kreditinstitute) und um die Guthaben (!) der Kunden bei Kreditinstituten auf Girokonten und auf Tagesgeldkon-
ten. Bei der sogenannten Geldmenge M2 sind außerdem Termin- und Spargelder und bei der Geldmenge M3 zusätzlich weitere nicht ins Gewicht
fallende Geldinstrumente hinzugerechnet. Wir bleiben zunächst bei M1. Die Deutsche Bundesbank sammelt die ständigen Meldungen der Kreditinsti-
tute hierzu und veröffentlicht ihr Wissen jeden Monat in ihren "Monatsberichten". Nach dem neuesten "Monatsbericht Mai 2023" (S. 13*) betrug die
Geldmenge M1 (ohne umlaufendes Bargeld) im März 2023 2.769,6 Mrd. €. Mit umlaufendem Bargeld betrug die Geldmenge M1 3.138,65 Mrd. €.
Man könnte zur Ermittlung der mittleren Kaufkraft jetzt zwar mit der Bevölkerungszahl in Deutschland rechnen (zuletzt 83.237.124). Es hat aber keinen
Sinn, Säuglinge und Kinder mitzurechnen. Rechnen wir daher lieber mit der Zahl der Haushalte in Deutschland. Diese liegt nach Angaben des Statisti-
schen Bundesamtes in Deutschland bei 40.974.000. Die Geldmenge geteilt durch die Zahl der Haushalte ergibt somit die durchschnittliche Kaufkraft
pro Haushalt. Sie beträgt danach 76.601 €.
Wenn Sie Termin- und Spargelder mitrechnen wollen, dann müssen wir nach der Geldmenge M2 schauen. Diese lag (ohne umlaufendes Bargeld) im
März 2023 bei 3.756,4 Mrd. €, sodass der mittlere Betrag pro Haushalt (inkl. umlaufendem Bargeld) bei 100.685 € liegt.
(Aktuelle Zahlen erhalten Sie übrigens in der Datei unter www.kiwifo.de/geldmengenwachstum.xlsx.)
Nun werden Sie einwenden, dass es ja auch Staat, Kommunen und eine Unzahl von Unternehmen (allesamt juristische Personen) gibt, die man nicht
einfach unterschlagen könne. Klar gibt es diese juristischen Personen. Aber die gehören ja letztlich irgendwelchen natürlichen Personen, sodass auch
das Geld der juristischen Personen letztlich der jeweiligen natürlichen Person gehört — das gilt selbst in Bezug auf Staat und Kommunen. Bei Letzte-
ren ist auch zu bedenken, dass diese sich angesichts ihrer erdrückenden Verschuldung ohnehin keine nennenswerten Geldbestände leisten. (Im März
2007 wurde erstmals das "Finanzvermögen des Staatssektors" bekannt gegeben. Vater Staat besaß Ende 2005 ca. 58 Mrd. €, also etwa 1482 € pro
Haushalt oder 704 € pro Einwohner). Zuletzt bekannt gegeben sind die Zahlen zum 31.12.2021 (www.destatis.de/DE/…/Schulden-Finanzvermoegen
/_inhalt.html#_zlsivvoq5 bzw. www.destatis.de/DE/…/statistischer-bericht-finanzvermoegen-2140510217005.xlsx?__blob=publicationFile, Tabelle
71411-02, Feld B10). Danach betrugen Bargeld und Einlagen von Bund, Ländern, Gemeinden, Gemeindeverbänden und Sozialversicherung zusammen
rund 415.013 Mio. €. Das sind stolze 10.129 € pro Haushalt oder 4.986 € pro Einwohner. Wie gesagt: Auch dieses Geld gehört letztlich den Bürgern.
2. Diese Betrachtung der Geldmengen pro Haushalt bzw. pro Erwachsenem ist aus drei Gründen für die breite Öffentlichkeit ungewohnt.
Zum Ersten sind wir es gewohnt, bei der Betrachtung von Arm und Reich, von Mittelschicht, Ober- und Unterschicht usw. nach dem gesamten Ver-
mögen zu schauen und nicht nur auf einen Geldbetrag. Deshalb erscheint ein Betrag von 76.601 € bzw. 100.685 € (Geld pro Haushalt) beim ersten
Blick sehr niedrig, beim zweiten Blick, wenn man verstanden hat, dass es nur ein bestimmter, aktueller Geldbetrag ist, aber sehr hoch.
Zum Zweiten denken wir bei "durchschnittlichen" Geldbeträgen in der Größe von 76.601 € bzw. 100.685 € schnell an ein Jahreseinkommen (oder
Monatseinkommen?), aber nicht an das aktuell vorhandene Geld.
Dies hat ― zum Dritten ― seinen Grund darin, dass wir normalerweise nicht wissen und nicht ahnen, wie rasant die Geldmenge in den letzten vier,
fünf Jahrzehnten in Deutschland gewachsen ist. Intuitiv haben die meisten die Vorstellung, dass die Menge des Geldes gleich bleibt oder dass sie
allenfalls an das Sozialprodukt, an die Inflation oder gar an die Bevölkerungszahl angepasst wird. In Wirklichkeit ist die Geldmenge M3 seit der Wäh-
rungsreform 1948 um durchschnittlich 10 % jährlich gewachsen, also viel viel schneller als jedes der vorgenannten Kriterien.
3. Vor 75 Jahren, am 20. Juni 1948, trat das Währungsgesetz in Kraft, wonach "mit Wirkung vom 21. Juni 1948 … die Deutsche-Mark-Währung" galt
(Einzelheiten dazu Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2002, S. 20 ff. unter https://www.bundesbank.de/.../2002-03-monatsbericht-data.pdf).
Damals wurden ca. 13 Mrd. DM neues Geld im Sinne von M3 geschaffen (aaO S. 21). Ludwig Erhard wollte, wie er 1957 schrieb, eine “breitgeschichtete
Massenkaufkraft” schaffen, was mit der Währungsreform in jeder Hinsicht eingeleitet wurde.
Heute sind wir von einer “breitgeschichteten Massenkaufkraft” weiter entfernt als zu Zeiten Ludwig Erhards ― meilenweit!
Aus den beiden Eckzahlen ergibt sich ein durchschnittliches Wachstum der Geldmenge M2 (ähnlich wie M3) von knapp über 10 % jährlich!
4. Zur Währungsreform 1948 erhielt jeder ein "Kopfgeld" von 40 DM und dann noch eines von 20 DM. Mit der Währungsreform wurde eine Geld-
menge (im Sinne von M3) von etwa 13 Mrd. DM geschaffen. Die Bevölkerungszahl betrug etwa 51 Mio. Menschen.
Heute liegt M3 bei 4.188,86 Mrd. €. Wenn es 1948 für jeden ein "Kopfgeld" von 40 DM + 20 DM = 60 DM gab, so war das so, als bekäme heute jeder ein
"Kopfgeld" von 11.845,59 €.
Die Rechnung:
51.000.000 Einwohner x 4.188,86 Mrd. €
60 DM x ―――――――――――――――――――― = 11.845,59 €
13 Mrd. DM x 83.237.124 Einwohner
Dies entspricht ungeachtet des Wechsels des Währungszeichens etwa dem Faktor 197! 60 DM damals sind rund 11.820 € heute: Wer damals also 60
DM Bargeld in der Tasche hatte, müsste heute, wenn er richtig gewirtschaftet hätte, 11.820 € Bargeld in der Tasche haben.
Oder anders ausgedrückt:
Ein Smartphone, das heute z. B. 500,- € kostet, hätte nach dieser Rechnung damals 2,52 DM gekostet! Ein Auto, das heute 25.000 € kostet, hätte
damals 126,90 DM gekostet!
Umgekehrt gerechnet:
Die “Bruttostundenverdienste aller Arbeiter” lagen im Juni 1948 bei 0,99 DM und im Dezember 1948 bei 1,13 DM (Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, 8.
Aufl. 1964, S. 33). Hätte die Lohnentwicklung mit der Kaufkraftentwicklung (= Geldmengenwachstum) Schritt gehalten, so lägen die Bruttostunden-
löhne aller Arbeiter heute bei 195 € bzw. 223 €! (Aktuelle Berechnungen im Newsletter)
5. Wir sind nun nicht gewohnt, den uns persönlich zur Verfügung stehenden Geldbetrag mit dem der anderen zu vergleichen. Wir vergleichen allen-
falls unsere Wohnungen, unsere Fahrräder, Motorräder oder Autos, unsere Kleidung, unsere Kücheneinrichtungen. Wir vergleichen auch unsere
"Einkommen". Aber wir vergleichen nicht unsere "Geldbestände". Wir vergleichen sie nicht mit denen von anderen und ― was dem gleich kommt ―
nicht mit der gesamten in Deutschland vorhandenen Geldmenge. Daher merken wir von dem enormen Geldmengenwachstum von 10 % jährlich
nichts und wir merken nicht, dass, wenn wir unser Einkommen jährlich nicht ebenfalls um 10 % steigern, wir gegenüber der Gesamtheit verlieren. Das
ist auch deshalb verständlich, weil diese Gesamtheit zu 99 % aus Leuten besteht, denen es genauso geht wie uns. Und nur am Rand bemerken wir,
dass vielleicht 1 % enorme "Geldzuwächse" haben.
Rechenaufgaben:
•
Wenn die Geldmenge um 10% wächst und 99% der Leute einen Geldmengenzuwachs von nur 1% haben, wie viel Zuwachs hat das restliche
Prozent der Leute, wobei unterstellt sei, dass alle am Anfang gleich viel Geld hatten?
•
Wie ist es, wenn man das Ergebnis der vorigen Rechnung als Geld-Anfangsbestände für eine weitere Berechnung im zweiten Jahr nimmt?
•
Wie ist es, wenn man diese Rechnung für 75 Jahre (also 75 mal) ausführt, wobei Endbestände der vorangegangenen Rechnung der Anfangsbe-
stand der neuen Rechnung sind?
Lösungen in Tabelle 5 unter www.kiwifo.de/geldmengenwachstum.xlsx
Das Heimtückische ist also, dass wir unseren Verlust an Kaufkraft, also an unserem Anteil an der vorhandenen Geldmenge, nicht bemerken und dass
wir deshalb seelenruhig unseren Alltagsgeschäften nachgehen. Preissteigerungen beunruhigen uns und lassen uns aktiv bis rebellisch werden. Lohn-
erhöhungen lassen Unternehmer aktiv bis rebellisch werden. Aber der Umstand, dass die Geldmenge Jahr für Jahr "an uns vorbei wächst" und unser
gewohntes Einkommen deshalb immer weniger gesamtwirtschaftliche Bedeutung hat, beunruhigt uns nicht und macht uns schon gar nicht rebellisch.
75 Jahre Währungsreform ― 75 Jahre Geldmengenwachstum
20.06.2023